1. Grundannahmen und Konzepte der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne
1.1. Die Herausbildung der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne
- Erste Vorstellungen über Vor- und Nachteile verschiedener Lebensabschnitte:
• Griechische und römische Philosophie (z.B. Solon, Cicero) und literarische Werken (Komödie Shakespeare: „Wie
es euch gefällt“)
- Erste umfangreiche Abhandlungen über menschliche Entwicklung im 18. Jahrhundert:
• „Philosophischen Versuchen über die menschliche Natur und ihre Entwicklung“ (Nikolaus Teten, 1777)
o Entwicklung als lebenslanger Prozess mit Gewinnen und Verlusten; Eingebettet/beeinflusst durch soziokulturel-
len Kontext
• „Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen“ (Adolphe Quételet, 1835)
o Zusammengefasste empirische Daten über den Lebenslauf:
❖ Einbezug physischer Parameter, psychische Parameter und Effekte historischer Ereignisse auf Altersunter-
schiede
- Entwicklungspsychologie herausgebildet als Zweig innerhalb der Psychologie im späten 19. Jahrhundert:
• „Die Seele des Kindes“ (William Preyers, 1882): Anfang der Entwicklungspsychologie als Wissenschaft
• Fokus anfangs ausschließlich auf Kindes- und Jugendpsychologie, Gründe dafür:
o Entwicklungsbegriff
❖ Entwicklung verstanden als Höherentwicklung → bei allen Personen einer Altersgruppe gleich ablaufend
❖ Prozesse der Höhenentwicklung am häufigsten in Kindes- und Jugendalter
o Altersunterschiede in der Veränderungsdynamik
❖ Kindheit und Jugend als kurzer Zeitraum der vielen Veränderungen → (junge und mittlere) Erwachsenenalter
relativ stabil/reif mit langsamen Veränderungen (entwicklungspsychologisch uninteressant)
o Bedarf nach wissenschaftlichen Erkenntnissen
❖ Suche nach Erkenntnissen für Förderung der Entwicklung von Kindern
- Systematischer Einbezug des Erwachsenenalters in der Entwicklungspsychologie:
• „Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem“ (Charlotte Bühler, 1933) → Modell der lebenslangen
psychischen Entwicklung
• Gründe für das zunehmende Interesse am Erwachsenenalter
o Zunahme der Lebenserwartung
❖ Demografische Veränderungen
▪ Bsp. Deutschland: Zwischen 1870/80 und Beginn des 21. Jahrhundert hat sich die Lebenserwartung mehr als
verdoppelt
▪ Anteilsabnahme der Kinder- und Jugendlichen an Gesamtbevölkerung; Anteilszunahme der Erwachse-
nen/sehr alten Menschen an Gesamtbevölkerung
o Zunehmende Instabilität im Erwachsenenalter
❖ Auswirkung des sozialen Wandels: Zunehmende Instabilität des Lebens im Erwachsenenalter
▪ Z.B. deutliche Zunahme der Scheidungsrate in meisten Industriestaaten
o Interesse der Gerontologie an frühen Anzeichen bzw. Prädiktoren
❖ Erkenntnis aus Gerontologie/Gerontopsychologie: Altersprozesse hängen mit der Entwicklung aus bisherigen
Leben zusammen
o Das „Altern“ von Längsschnittstudien
❖ Längsschnittstudie bevorzugte Forschungsmethode in Entwicklungspsychologie
❖ Ersten entwicklungspsychologischen Längsschnittstudien beschäftigten sich mit Veränderungen in Kindes-
und Jugendalter → Weiterführung der Erfassung ins Erwachsenenalter
1.2. Begriffe
- Begriffserklärung: Entwicklung
• = Geordnete (regelhafte) und längerfristige Veränderung des Erlebens und Verhaltens über die gesamte Lebens-
spanne
- Vorschläge zur Unterteilung der Altersbereiche
• Unterteilung etwas willkürlich: Keine eindeutigen biologischen Altersgrenzen (z.B. Pubertät als Beginn des Ju-
gendalters) + wenig soziale Konvention (z.B. erreichen der Volljährigkeit ist staatenabhängig)
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,- Häufigste Einteilung: frühen, mittleren und höheren Erwachsenenalters:
• Frühes Erwachsenenalter: Erreichen der Volljährigkeit
• Mittleres Erwachsenenalter: weniger klare Altersgrenze; Häufige Angabe des 40. oder 45. Lebensjahr
• Höheres Erwachsenenalter: Erreichen des Pensionierungsalters
- Weiter ausdifferenzierte Unterteilung der Altersbereiche:
• emerging adulthood
o Schrittweiser Übergang vom Jugendalter ins Erwachsenenalter
o Grundlage für Zwischenstufe:
❖ Übernahme von Erwachsenenrollen (wie Berufseinstieg, Eheschließung und Elternschaft) zunehmend später
und stärker zeitversetzt
❖ Viele soziale Rollenübergänge (Erreichen finanzieller Unabhängigkeit von den Eltern) noch nicht vollzogen
o Aufgrund unterschiedlicher Alter bei der Übernahme von Erwachsenenrollen → keine eindeutige Altersgrenze
zwischen emerging adulthood und jungen Erwachsenenalter
• Höhere Erwachsenenalter: „Junge Alte“ und „Alte Alte“; Hochbetagten (alte Menschen >90 Jahre)
o Grundlage für Unterteilung: Gesundheitszustände im Alter
- Begriff: „Alterns“ (In dieser Zusammenfassung synonym mit „Entwicklung“)
• = jegliche (positive oder negative) Veränderung der Anpassungsfähigkeit des Organismus
o Alternative Definition einiger Autoren: Altern= Reduzierung körperlicher und psychischer Leistungsmöglich-
keiten und -grenzen
• Deskriptive Verwendung des Begriffs: Beschreibung von mit dem Älterwerden einhergehenden Veränderungen
• Präskriptive Verwendung: „erfolgreiches Alter“; Erreichung eines bestimmten Zielzustands
o = positive Bilanz aus Entwicklungsgewinnen und -verlusten zu erreichen + aus gegebenen Möglichkeiten/Gren-
zen das Beste zu machen
o Objektive Kriterien (geistige und körperliche Leistungsfähigkeit, psychische und physische Gesundheit)
o Subjektive Kriterien (hohe Lebenszufriedenheit)
1.3. Theoretische Grundlagen und Leitsätze der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne
- Bisher keine umfassende/integrative Theorie zu Beschreibung und Erklärung von Entwicklungsprozessen im Er-
wachsenenalter; Formulierung zahlreicher theoretischer Annahmen zur Entwicklungspsychologie der Lebens-
spanne: Angeordnet nach Grad der Abstraktheit auf vier Ebenen:
• 1. Ebene: Einflussfaktoren auf menschliche Entwicklung + deren Veränderung im Lebensverlauf
• 2. Ebene: Theoretische Leitsätze der Entwicklungspsychologie (allgemeine Aussagen über Merkmale der psychi-
schen Entwicklung über gesamte Lebensspanne)
• 3. Ebene: Theoretische Vorstellungen über zentrale Themen der Entwicklung in einem bestimmten Altersabschnitt
• 4. Ebene: Bereichsspezifische Theorien (Erklären/Beschreiben Entwicklungsprozesse in einem spezifischen Funk-
tionsbereich)
1.3.1. Die Perspektive der biologischen und kulturellen Evolution
- Herausbildung von Gattung Mensch beeinflusst durch:
• Veränderung der Gene (biologische Evolution)
o Sehr langsam (über Hunderttausenden von Jahren)
o Menschliche Genom (Erbgut) sehr stabil
• Veränderung der gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen (kulturelle Evolution)
o Weitaus schnellere Veränderung (in Jahrzehnten oder Jahrhunderten)
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,- „inkomplette Architektur des menschlichen Lebens“ (Paul Baltes, 1997): höhere Alter am wenigsten komplett →
Zunahme der Diskrepanz zwischen dem Erwünschtem und biologisch/kulturell Möglichen
• a) Abnahme positiver Effekte der biologischen Selektion
o Evolutionstheorie (biologische Selektion): Die Gene werden weitervererbt die Fortpflanzungswahrscheinlichkeit
steigern + Chancen der Nachkommen sich selber fortzupflanzen erhöhen
o Gene die sich erst im höheren Alter auswirken sind von biologischer Selektion nicht direkt betroffen (nur indi-
rekt)
o Für das hohe Alter bedeutsame Gene kamen früher kaum zur Wirkung (niedrigere Lebenserwartung) → Weitere
Abschwächung der biologischen Selektion
• b) Wachsender Bedarf nach Kultur
o Kultur= materielle, soziale, symbolische (wissensbasierte) und psychische Ressourcen, welche die Menschheit
entwickelt hat
o u.a. Angebote: Angebote zum Training von Fertigkeiten oder medizinische Maßnahmen zur Förderung der Ge-
sundheit → Zunahme der Lebenserwartung
• c) Sinkender Effekt der Kultur
o Psychologische, soziale und materielle Interventionen sind im höheren Alter weniger wirksam
❖ Grund dafür: Abnahme der biologischen Plastizität
o Keine optimale Kultur des Alterns: Fehlende hochwirksame Interventionen
1.3.2. Leitsätze der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne (nach Paul Baltes, 1987; 1990; 2006)
1. Die psychische Entwicklung ist ein lebenslanger Prozess
- In jedem Altersbereich gibt es Anforderungen, die Entwicklungsprozesse auslösen können
• Unterschiede in Inhalten und Richtungen der Veränderungen in Abhängigkeit vom Alter
2. Entwicklung als Gewinn und Verlust der Anpassungsfähigkeit (als Wachstum und Abbau von Fähigkeiten)
- Entwicklung schließt Gewinne und Verluste ein; Veränderung der Verhältnisse von Gewinnen/Verlusten im höhe-
ren Erwachsenenalter
• Höheres Erwachsenalter: Gewinne seltener und Verluste häufiger
• Allerdings:
o In Kindheit- und Jugend sind Verluste vorhanden (z.B. am Beginn der Sprachentwicklung)
o Im hohen Erwachsenenalter sind Gewinne möglich (z.B. das Aufgeben der Berufstätigkeit → mehr Freizeit)
• Kompensationsmechanismen: um Verluste teilweise auszugleichen
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, - Einsatz/Investition von Zeit, Kraft und Energie für:
• Erzielen von Gewinnen (Höherentwicklung) (Investition ältere Menschen < junge Menschen)
• Aufrechterhaltung des vorhandenen Funktionszustands (Investition ältere Menschen > junge Menschen)
• Umgang mit Verlusten (Investition ältere Menschen > junge Menschen)
• Rückgängigmachen von Verlusten (Investition ältere Menschen > junge Menschen)
- Meinen Erwachsene, dass das höhere Alter vor allem Verluste bringt? (Heckhausen und Krüger, 1993)
• Negative Altersstereotype: Alt werden= zunehmender Verlust
• Befragung junger (21-35 Jahre), mittlerer alter (40-55 Jahre) und alter Erwachsener (60-80 Jahre): Welche Ver-
änderung von (un-)erwünschten Eigenschaften in jedem Jahrzehnt ihres Lebens erlebten/erwarteten
• Ergebnisse:
o Frühe Erwachsenenalter: Zunahme erwünschter + leichte Abnahme unerwünschter Eigenschaften
o Mittlere Erwachsenenalter: Negativere Erwartung
o Ende des 7. Lebensjahrzehnt: Mehr erwünschte als unerwünschte Veränderungen erwartet/erlebt
o Älteste Studienteilnehmer: positivere Antworten im Vergleich zu anderen Gruppen
o Erwartungen für sich persönlich positiver als für andere Menschen in diesem Alter
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