1. Diagnostische Erhebungsverfahren: Eine Standortbestimmung
- Psychologische Diagnostik als Basiskompetenz psychologischen Handelns
• Hoher Anteil der praktischen Tätigkeiten von Psychologen ist Durchführung psychologischer Tests
• Große Unterschiede in Abhängigkeit zur inhaltlichen Ausrichtung (Therapierichtung) und Tätigkeitsfeld
o Zeit für Diagnostik: Neuropsychologie > Klinische Psychologie
• Historischer Wandel der Beschreibung des Tätigkeitsfeldes der Psychologie
- Diagnostik als zentrale angewandte Querschnittsdisziplin der Psychologie
• Diagnostik= regelgeleitete Sammlung und Aufbereitung von gezielt erhobenen Informationen → zur Beschrei-
bung, Erklärung und Prognose menschlichen Erlebens und Verhaltens
1.1. Historisches
- Medizinische „Diagnostik“ Begriff beeinflusste historisch das Grundverständnis der Psychologischen Diagnostik
• Diagnostik= Durchforschung → zielt ab auf: Erkennen/Feststellen von Krankheiten oder Abklären (= Diagnose-
findung; Abklärung von eingesetzten Untersuchungsmethoden) von Gesundheitsstörungen
• Erkennen/Abklären durch Zuordnung von Befunden und Symptomen zu einem bestimmten Krankheitsbild
o Medizinische Diagnostik endet in Kategorisierung „krank“ oder „gesund“
- Bei Fehlentscheidungen (Basis: diagnostische Entscheidungsstrategien) → Verstehen/Rekonstruieren der Ent-
scheidungsabläufe → Fehler erkennen → Optimierung der Entscheidungen in Revisionsschleife
• Aus fortlaufender Optimierung entstehen neue Erhebungsverfahren in der Psychologischen Diagnostik
- „Psychodiagnostik“ ursprünglich bei Rorschach (1921): projektive Testverfahren (= Rorschach-Test) → Abgelöst
durch Bezeichnung „Psychologische Diagnostik“
1.2. Zur Begrifflichkeit „Psychologische Diagnostik“
- Mehrdeutigkeit des Begriffs:
• Bezeichnet eine Disziplin der Psychologie
• Beschreibt einen Prozess der Entscheidungsfindung auf Basis diagnostischer Verfahren
• Umfasst auch die Datengewinnung innerhalb dieses Prozesses
- Definition der Psychologischen Diagnostik
• = Lehre von der sachgemäßen Ermittlung eines psychologisch begründeten Urteils
• Ziel: fundierte, begründbare und optimierbare Entscheidungen und Handlungen zu treffen
• Definition nach Jäger & Petermann (1999):
o = Systematisches Sammeln und Aufbereiten von Informationen zur Begründung, Kontrolle und Optimierung
von Entscheidungen und Handlungen
- Merkmale der psychologischen Diagnostik
• Dient der Informationsgewinnung zu psychologisch relevanten Merkmalen
• Meistens auf Einzelfall bezogen
• Informationen werden zu einem Urteil integriert
o Grundlage für Entscheidungen, Prognosen und Evaluation
• Eng verbunden mit:
o Beschreibung
o Klassifikation
o Vorhersage
o Erklärung psychologischer Zustände und Prozesse
- Abgrenzung zur Differentiellen Psychologie
• Ziel: Erklärung individueller Unterschiede
• Fokus liegt nicht auf Entscheidungen
- Anforderung an diagnostisches Handeln
• Vorab-Spezifikation von:
o Zielen o Bedingungen
o Inhalten o Konkreten Schritten der Datenerhebung
• Zentrales Kriterium:
o → Transparenz und Nachvollziehbarkeit diagnostischer Entscheidungen
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,- Methodische Zugänge und Herausforderungen
• Vielfältige methodische Wege zur Objektivierung subjektiver Eindrücke
• Unterschiedliche Erhebungsstrategien sind mit spezifischen Fehlerquellen und Verzerrungen verbunden
1.3. Ziele und Aufgabe der diagnostischen Datenerhebung
1.3.1. Klassifikation
- = Zuordnung von Personen zu alternativen Merkmalsklassen
• Individuell passende Einordnung für jede Person
• Ziel: Beschreibung (Typisierung) einer Person
- Anwendung in der Klinischen Psychologie und Psychiatrie
• Kennzeichnung von psychischen Störungen durch Klassifikation
- Bedeutung der Klassifikation
• Basierend auf empirisch abgesicherten Ordnungssystemen
• Erleichtert die Kommunikation zwischen Diagnostikern und Wissenschaftlern
- Voraussetzungen für Klassifikationsentscheidungen
• Klassen müssen genau definiert werden
• Kriterien festlegen
o Abgrenzung von Leistungen oder Untergliederungen in Leistungsbereiche (z.B. Grenzwerte, Intervalle)
• Entscheidungsregeln formulieren
o Über die Zuweisung einer Person zu einer Klasse (Fisseni, 2004)
- Platzierungsentscheidungen als Sonderform der Klassifikation
• Personen werden auf einer Dimension gruppiert (z.B. Testwert)
• Beispiel im pädagogischen Bereich:
o Schüler werden nach Lernvoraussetzungen (z.B. Vorwissen) geordnet und gezielt gefördert
1.3.2. Selektion
- = Auswahlstrategie, bei der institutionelle Interessen im Vordergrund stehen
• Auswahl einer Person aufgrund bestimmter Persönlichkeitsmerkmale
• Zuordnung zu einer Maßnahme oder Position
• Möglichkeit der Ablehnung einer Person basierend auf diagnostischen Entscheidungen (z.B. Test)
- Anwendungsbeispiel der Selektion
• Häufig in der Personalauswahl (z.B. Arbeitsplatz, Studienplatz)
• Auch in der Zuweisung unterschiedlichen Fördergruppen (z.B. in der Schule)
- Vorarbeiten für ein Selektionsverfahren
• Definition der Stellenanforderungen
• Auswahl und Erhebung relevanter Merkmale
o Ermöglicht zuverlässige Vorhersagen
• Festlegung kritischer Trennwerte
o Unterscheidung von Gruppen
• Abschätzung der Güte und des Nutzens des Verfahrens
o Inklusive Kostenüberlegungen
• Beurteilung der Aussagekraft des Verfahrens
- Formen kritischer Trennwerte
• Cut-off-Werte für eine einzelnes Merkmal
• Cut-off-Werte aus gewichteten Dimensionen (Fisseni, 2004)
• Multiple Cut-off-Werte
o Verbundene Entscheidungsregeln (z.B. Dvorak, 1956)
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,- Bewertung des diagnostischen Erhebungsverfahrens im Selektionsprozess
• Bewertung anhand des Beitrags zur Güte der Entscheidung
• Wichtige Maße:
o Basisrate: Anteil der Personen mit dem Merkmal
o Selektionsquote: Anteil, bei dem Merkmal diagnostiziert wird
• Kosten-Nutzen-Analyse im Selektionsverfahren
o Beispiel: Taylor-Russell-Modell
❖ Erfolgsquote als Funktion aus Basisrate, Selektionsquote und Validität des Verfahrens
1.3.3. Klassifikation vs. Selektion: Beispiel Einschulungsuntersuchung
- Einschuluntersuchung als diagnostische Aufgabe
• Zentrale Aufgabe im Kindesalter: Feststellung der Schulreife oder Schulfähigkeit
• Früher: Bestimmte körperliche, kognitive und sozial-emotionale Merkmale mussten erfüllt sein, um als „schulreif“
zu gelten
- Klassifikatorische Aufgabe
• Feststellung, ob ein Kind die Anforderung für die Einschulung erfüllt
• Fokus: Körperliche und kognitive Ausstattung im Hinblick auf Schulanforderung
- Selektion bei der Einschulung
• Die Entscheidung, ob ein Kind eingeschult wird, erfüllt auch die Merkmale einer Selektion
- Wandel der Schulfähigkeitskonzeption
• Früher: Schulfähigkeit als Eigenschaft des Kindes, basierend auf Alter oder biologischen Reifungsprozessen
• Heute: Einbeziehung von Umweltfaktoren (z.B. Entwicklungs- und Förderbedingungen) in die Beurteilung
• Fokus: Nicht nur die Frage, ob ein Kind eingeschult wird, sondern welche Hilfen es für einen erfolgreichen Über-
gang von Kindergarten zur Schule benötigt
- Veränderung der Selektionsfunktion
• Zunehmende Integration von Kindern (z.B. integrative Beschulung in Regelschulen)
• Die Selektionsfunktion von Ausleseverfahren wir der Einschulungsuntersuchung entfällt
1.3.4. Zieldefinition von K. Pawlik
- Historische Einordnung
• Pawlik (1976) formulierte sechs grundlegende Ziele der Psychologischen Diagnostik
• Diese Ziele gelten – mit wenigen Erweiterungen (z.B. Jäger & Petermann, 1999) – bis heute
- Sechs unterschiedliche Zielsetzungen
1. Statusdiagnostik
o Diente ursprünglich Selektionszwecken
o Fokus: Bewertung des aktuellen Zustands einer Person
o Ziel: Bestimmung eines Ist-Zustands ohne Veränderungsabsicht
2. Prozessdiagnostik
o Ziel: Feststellung, ob und wie stark Personen oder soziale Systeme durch Intervention veränderbar sind
o Fokus: Modifikation (nicht Selektion) von Personen und Lebensumständen
3. Normorientierte Diagnostik
o Vergleich einer Person mit einer statistischen Norm → basiert auf empirisch ermittelter Merkmalsverteilung
o Eignung zur Entscheidungsfindung durch Rückführung auf Skalenwerte
4. Kriteriumsorientierte Diagnostik
o Vergleich der Leistung mit inhaltlich begründeten Zielkriterium (z.B. 90% richtige Aufgaben)
o Unabhängig von Gruppen- oder Altersnormen
o Ziel: Erfolg anhand eines festgelegten inhaltlichen Maßstabs beurteilen
5. Diagnostik als Inventarisieren
o Keine Zuweisung eines einzelnen Kennwerts
o Ziel: Sammlung relevanter Verhaltensindikatoren (z.B. angstauslösende Reize bei Angstpatienten)
o Anwendung: Verhaltenstherapie – Erstellung von Reizlisten (z.B. Angsthierarchie) zur gezielten Bearbeitung im
therapeutischen Prozess
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, 6. Situationsorientierte Diagnostik
o Reaktion auf Kritik an starrer Eigenschaftsdiagnostik (Mischel, 1968)
o Annahme: Verhalten wird bestimmt durch:
❖ Bisher Gelerntes
❖ Spezifische Reizsituation
❖ Erwartete Konsequenzen
o Beispiel: Diagnostik von aggressivem Verhalten bei Kindern
❖ Beschreibung des situationalen Kontexts (z.B. Konflikt in der Schule)
❖ Identifikation der auslösenden Bedingungen
❖ Erfassung der aktuellen Befindlichkeit (z.B. Ärgerniveau)
o Ziel: Differenzierte Aussagen zu Verhalten über verschiedene Alltagssituationen hinweg (z.B. Schule, Freizeit,
Zuhause)
1.4. Diagnostische Erhebungsverfahren in unterschiedlichen Anwendungsgebieten
- Grundlegende Einteilung nach Hossiep & Wottawa (1997)
• Wirtschaft (Arbeits- und Organisationspsychologie)
o Berufseignungsdiagnostik, Personalauswahl, Mitarbeiterbeurteilung
• Bildung (Pädagogische Psychologie)
o Leistungsdiagnostik, Begabungsdiagnostik, Schul- und Studieneignungsdiagnostik
• Gesundheit (Klinische Psychologie)
o Entwicklungsdiagnostik, Klinisch-psychologische Diagnostik
• Recht (Forensische Psychologie)
o Forensische Diagnostik, Verkehrspsychologische Diagnostik
- Erweiterung nach Kubinger (2009)
• Ausbildungs- und berufsbezogene Eignungsdiagnostik
• Ausbildungs- und berufsbezogene Rehabilitationsdiagnostik
• Entwicklungsdiagnostik im frühen Kindesalter
• Forensisch-psychologische/rechtspsychologische Diagnostik
• Neuropsychologische Diagnostik
• Gerontopsychologische Diagnostik
• Klinisch-psychologische Diagnostik
- Exemplarische Anwendungsbereiche
• Klinische Psychologie
o Ausgangspunkt für Intervention bei psychischen Störungen
o Auch bei Entwicklungs- und Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter
o Diagnostik nach Erkrankungen des zentralen Nervensystems → Begründung von Rehabilitations-, Therapie- und
Fördermaßnahmen
• Pädagogische Psychologie
o Berufs- und Schullaufbahnberatung
o Diagnostik bei Hochbegabung oder Sonderschulbedürftigkeit
o Ziel: Prognose über zukünftiges Verhalten (z.B. Lernerfolg)
o Diagnostik bei Lese-Rechtschreibstörung oder Rechenstörung → Zuordnung je nach Kontext zur Klinischen
Kinderpsychologie oder Pädagogische Psychologie
• Forensisch-psychologische Diagnostik
• Organisationsdiagnostik
• Sonderpädagogik
• Psychiatrische Diagnostik
- Methodenvielfalt der Erhebung
• Interview • Hochstandardisierte Testverfahren
• Fragebögen • Zunehmende Bedeutung: Computer- und internet-
• Beobachtungsverfahren basierte Verfahren
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