, BG11 Sachtextanalyse 17.04.2024
Datum:____________
Kommentar
Sprachnachrichten: Das ist geistiger Missbrauch
Von Sara Tomsic, www.taz.de, 17.11.2018
Viele Menschen finden es praktisch, mit dem Smartphone Sprachnachrichten zu
verschicken. Schlimm ist es für die, die damit zugemüllt werden.
Foto: dpa
1 Mit echter gesprochener Kommunikation ist es wie mit einem Ballspiel. Ein Anruf,
2 eine Frage, der Anfang eines Gesprächs, das ist ein Angebot. Ich signalisiere: Ja –
3 oder eben Nein. Bei Ja folgt ein Passspiel, hin und her, du und ich. Echter Austausch
4 eben.
5 Mit Sprachnachrichten auf WhatsApp ist das anders. Da nimmt das Gegenüber den
6 Ball und haut ihn mir in die Fresse. Danach liegt der Ball in meinem Feld, und ich bin
7 dran. Ob ich will oder nicht.
8 Sprachnachrichten sind eine Ausgeburt des Egoismus. Ellenlanges Rumgelaber ohne
9 Sinn und Verstand. Das ist kein Angebot zur Kommunikation, das ist geistiger
10 Missbrauch.
11 Für alle Glücklichen, die nicht wissen, was eine Sprachnachricht ist: 2013 hat
12 WhatsApp, der bekannteste Messengerdienst für Smartphones, die Möglichkeit
13 eingeführt, neben Texten und Bildern auch Audiodateien zu verschicken. Im
14 Chatfenster muss man einen Knopf gedrückt halten, labert drauflos, und beim
15 Loslassen sendet sich die Datei von selbst.
16
, BG11 Sachtextanalyse 17.04.2024
Datum:____________
17 Zumindest war das am Anfang so. Meiner Meinung nach eine Schutzfunktion, damit
18 dem Versender irgendwann der Daumen abfault und die Nachricht dadurch kürzer
19 bleibt. Heute gibt es eine Zusatzfunktion, die es ermöglicht, dass man freihändig
20 sprechen kann und erst bei einem weiteren Drücken auf den Knopf die Nachricht
21 versendet. Gut für alle, die sich selbst gerne reden hören. Schlecht für den Rest vom
22 Fest, der das ertragen muss.
23 Okay, es gibt eine Ausnahme: Für Menschen mit Behinderungen, die es ihnen
24 erschweren, auf Handydisplays lange Texte zu schreiben, sind Sprachnachrichten
25 eine gute Sache. Klar! Wobei auch die sich gern vorm Abschicken überlegen können,
26 wie ausführlich sie die Sprachnachricht halten. Für alle anderen gilt das erst recht.
27 Die größte Frechheit, die mir dabei je begegnet ist, war 9 Minuten und 43 Sekunden
28 lang. Mit einem harmlosen „Pling“ kündigte sie sich an, rechts oben auf dem Handy
29 blinkte ein kleines Licht in Dünnschissorange. Die Aggression rumorte in meinem
30 Kopf: Was zur Hölle will man mir in 9 Minuten und 43 Sekunden sagen? 100 Euro,
31 dass es nur unwichtiges Zeug ist, wettet mein Gehirn mit sich selbst.
32 Ich ärgere mich, weil ich weiß: Ich werde sie trotzdem anhören. Warum? Weiß ich
33 nicht. Ich fühle mich unter Druck. Der Ball liegt in meinem Feld, und ihn liegen lassen,
34 das tun nur Spielverderber. Außerdem habe ich keine Lust auf eine Diskussion à la
35 „Warum antwortest du nicht, alles okay?“.
36 Dabei ist die große Frage: Wie soll ich denn bitte antworten? Mein Gegenüber hat
37 sich ja selber gegen ein Telefonat und für diesen Audiomüll entschieden, für ein
38 Format, das keine Zwischenrufe, Nachfragen, nicht mal „Ach so“ und „Hmmmhmms“
39 zulässt. Meine Kommentare darf ich jetzt post disputatio anbringen. „Ja, Mensch,
40 klasse. Das, was du bei Minute drei gesagt hast, klingt spannend.“ So?
41 Und abgesehen davon: Was soll ich denn überhaupt antworten? In
42 Sprachnachrichten werden meistens keine Fragen gestellt. Soll ich das Erzählte
43 einfach anschließend loben, einordnen und kommentieren? Oder soll ich im
44 Gegenzug auch über meinen Tag sinnieren? Bestimmt nicht. Wenn man ehrlich ist,
45 sind Sprachnachrichten Kommunikationssackgassen. Eine Runde Märchenstunde.
46 Völlig sinnbefreite Datenmenge. Sie gehören abgeschafft.
47 Stattdessen drücke ich auf Abspielen. Schnell das Handy ans Ohr, damit nicht alle
48 mithören können. Wer bis jetzt noch dachte: „Ach, Sprachnachrichten, alles halb so
49 wild“, dem gönne ich folgende Kostprobe von Herzen.
50 „Heeeeeeey, ich bin’s, ich wollte dir nur mal ’ne Nachricht dalassen.“ Ach echt? „Ich
51 sitze gerade auf der Couch, eingemummelt in meine Kuscheldecke, und draußen
52 regnet es ganz fürchterlich. Heute ist allgemein so ein grauer Tag. Mann, mann, die
53 Kälte macht mich echt fertig. Und unseren Kater auch, der will gar nicht mehr richtig
54 raus. Ist es bei euch in Berlin auch so kalt? Na ja, egal.“ Ja, stimmt, egal. Wen
55 interessiert’s? „Gestern war ich Geschenke kaufen, ich weiß, es ist eigentlich viel zu
56 früh für Weihnachtsgeschenke, aber die Lebkuchen, die im Laden liegen, machen
57 mich schon ganz nervös. Haha.“
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Kommentar
Sprachnachrichten: Das ist geistiger Missbrauch
Von Sara Tomsic, www.taz.de, 17.11.2018
Viele Menschen finden es praktisch, mit dem Smartphone Sprachnachrichten zu
verschicken. Schlimm ist es für die, die damit zugemüllt werden.
Foto: dpa
1 Mit echter gesprochener Kommunikation ist es wie mit einem Ballspiel. Ein Anruf,
2 eine Frage, der Anfang eines Gesprächs, das ist ein Angebot. Ich signalisiere: Ja –
3 oder eben Nein. Bei Ja folgt ein Passspiel, hin und her, du und ich. Echter Austausch
4 eben.
5 Mit Sprachnachrichten auf WhatsApp ist das anders. Da nimmt das Gegenüber den
6 Ball und haut ihn mir in die Fresse. Danach liegt der Ball in meinem Feld, und ich bin
7 dran. Ob ich will oder nicht.
8 Sprachnachrichten sind eine Ausgeburt des Egoismus. Ellenlanges Rumgelaber ohne
9 Sinn und Verstand. Das ist kein Angebot zur Kommunikation, das ist geistiger
10 Missbrauch.
11 Für alle Glücklichen, die nicht wissen, was eine Sprachnachricht ist: 2013 hat
12 WhatsApp, der bekannteste Messengerdienst für Smartphones, die Möglichkeit
13 eingeführt, neben Texten und Bildern auch Audiodateien zu verschicken. Im
14 Chatfenster muss man einen Knopf gedrückt halten, labert drauflos, und beim
15 Loslassen sendet sich die Datei von selbst.
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Datum:____________
17 Zumindest war das am Anfang so. Meiner Meinung nach eine Schutzfunktion, damit
18 dem Versender irgendwann der Daumen abfault und die Nachricht dadurch kürzer
19 bleibt. Heute gibt es eine Zusatzfunktion, die es ermöglicht, dass man freihändig
20 sprechen kann und erst bei einem weiteren Drücken auf den Knopf die Nachricht
21 versendet. Gut für alle, die sich selbst gerne reden hören. Schlecht für den Rest vom
22 Fest, der das ertragen muss.
23 Okay, es gibt eine Ausnahme: Für Menschen mit Behinderungen, die es ihnen
24 erschweren, auf Handydisplays lange Texte zu schreiben, sind Sprachnachrichten
25 eine gute Sache. Klar! Wobei auch die sich gern vorm Abschicken überlegen können,
26 wie ausführlich sie die Sprachnachricht halten. Für alle anderen gilt das erst recht.
27 Die größte Frechheit, die mir dabei je begegnet ist, war 9 Minuten und 43 Sekunden
28 lang. Mit einem harmlosen „Pling“ kündigte sie sich an, rechts oben auf dem Handy
29 blinkte ein kleines Licht in Dünnschissorange. Die Aggression rumorte in meinem
30 Kopf: Was zur Hölle will man mir in 9 Minuten und 43 Sekunden sagen? 100 Euro,
31 dass es nur unwichtiges Zeug ist, wettet mein Gehirn mit sich selbst.
32 Ich ärgere mich, weil ich weiß: Ich werde sie trotzdem anhören. Warum? Weiß ich
33 nicht. Ich fühle mich unter Druck. Der Ball liegt in meinem Feld, und ihn liegen lassen,
34 das tun nur Spielverderber. Außerdem habe ich keine Lust auf eine Diskussion à la
35 „Warum antwortest du nicht, alles okay?“.
36 Dabei ist die große Frage: Wie soll ich denn bitte antworten? Mein Gegenüber hat
37 sich ja selber gegen ein Telefonat und für diesen Audiomüll entschieden, für ein
38 Format, das keine Zwischenrufe, Nachfragen, nicht mal „Ach so“ und „Hmmmhmms“
39 zulässt. Meine Kommentare darf ich jetzt post disputatio anbringen. „Ja, Mensch,
40 klasse. Das, was du bei Minute drei gesagt hast, klingt spannend.“ So?
41 Und abgesehen davon: Was soll ich denn überhaupt antworten? In
42 Sprachnachrichten werden meistens keine Fragen gestellt. Soll ich das Erzählte
43 einfach anschließend loben, einordnen und kommentieren? Oder soll ich im
44 Gegenzug auch über meinen Tag sinnieren? Bestimmt nicht. Wenn man ehrlich ist,
45 sind Sprachnachrichten Kommunikationssackgassen. Eine Runde Märchenstunde.
46 Völlig sinnbefreite Datenmenge. Sie gehören abgeschafft.
47 Stattdessen drücke ich auf Abspielen. Schnell das Handy ans Ohr, damit nicht alle
48 mithören können. Wer bis jetzt noch dachte: „Ach, Sprachnachrichten, alles halb so
49 wild“, dem gönne ich folgende Kostprobe von Herzen.
50 „Heeeeeeey, ich bin’s, ich wollte dir nur mal ’ne Nachricht dalassen.“ Ach echt? „Ich
51 sitze gerade auf der Couch, eingemummelt in meine Kuscheldecke, und draußen
52 regnet es ganz fürchterlich. Heute ist allgemein so ein grauer Tag. Mann, mann, die
53 Kälte macht mich echt fertig. Und unseren Kater auch, der will gar nicht mehr richtig
54 raus. Ist es bei euch in Berlin auch so kalt? Na ja, egal.“ Ja, stimmt, egal. Wen
55 interessiert’s? „Gestern war ich Geschenke kaufen, ich weiß, es ist eigentlich viel zu
56 früh für Weihnachtsgeschenke, aber die Lebkuchen, die im Laden liegen, machen
57 mich schon ganz nervös. Haha.“